«Wir assen getrocknete Erbsen, die für Tiere im Tiergarten Schönbrunn bestimmt waren. Die Erbsen mussten über Nacht eingewässert werden, tags darauf schwammen unzählige Würmer an der Wasseroberfläche.» So erinnert sich ein Mädchen aus Wien. Europa liegt nach sechs Jahren Krieg in Trümmern. Der Hunger grüsst täglich und unerbittlich. Aus dieser Not heraus entsteht die «Schweizer Europahilfe» (SEH) im Jahr 1948. Es ist die Geburtsstunde von SWISSAID.

Heute, 75 Jahre später wütet wieder ein Krieg. Er vernichtet nicht nur die Infrastruktur in der Ukraine, nicht nur Menschenleben und Hoffnungen, sondern auch den Fortschritt im Kampf gegen den Hunger. Als die Vereinten Nationen 2015 die Agenda 2030 verabschiedeten und sich damit 193 Mitgliedstaaten verpflichteten, Armut und Hunger bis 2030 endgültig zu beseitigen, herrschte Zuversicht. Die Bemühungen der NGOs wie SWISSAID hatten Wirkung gezeigt: Weniger Menschen litten an Mangelernährung. Immer mehr Menschen hatten Zugang zu Wasser, zu Bildung und zu medizinischer Hilfe.

Aus der «Schweizer Spende», die Nothilfe im kriegszerstörten Europa geleistet hat, entsteht am 1. Juli 1948 die «Schweizerische Europahilfe» (SEH), eine Dachorganisation der damals tätigen Schweizer Hilfswerke.

Multiple Herausforderungen

Doch der Wind hat gedreht. Der Krieg in der Ukraine trifft auch den Globalen Süden empfindlich. Dazu kommt die Klimakrise, welche sich immer deutlicher im täglichen Wetter widerspiegelt. Starkregenfälle nehmen zu. Hitzeperioden auch. Im vergangenen Sommer fielen in Indien Vögel tot vom Himmel. Im Niger wurden ganze Ernten zerstört. Millionen von Menschen standen ohne Nahrung da. Inzwischen leiden wieder 830 Millionen Menschen weltweit an Hunger. Das ist jeder zehnte Mensch.

Blaise Burnier, Afrika-Experte bei SWISSAID, sieht die Ernährungssicherheit denn auch als eines der drängendsten Probleme. Vor allem in der Sahelzone. «Wüsten wachsen rasant. Fruchtbares Land verschwindet. Und damit ist die Lebensgrundlage von Millionen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern bedroht. Kommt dazu: Die Jugendlichen haben kaum Perspektiven. Das macht sie anfällig für das Werben von militanten Gruppierungen und die Migration in den Westen.»

Zu den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine kommen die Klimakrise und ihre dramatischen Folgen hinzu. Zum Beispiel in Niger, wo die Dürre immense Ernteschäden verursachte. Die Bevölkerung war akut von Hunger bedroht.

 

Tief verankert

Doch was kann eine NGO aus der kleinen Schweiz gegen diese multiplen Krisen ausrichten? Natürlich können wir die Probleme nicht im Alleingang überwinden, jedoch ebnen aber immerhin Hundertausenden von Menschen pro Jahr den Weg zu einer sicheren, gesunden Ernährung.  Dabei kommt uns unsere 75 Jahre alte Geschichte enorm zugute. In Tansania beispielsweise ist SWISSAID seit 50 Jahren aktiv. In Indien, im Tschad und Niger noch länger. Die meisten Mitarbeitenden in den Ländern sind einheimische Fachkräfte. Bereits seit 1979 – als eine der ersten NGOs überhaupt – setzte SWISSAID nicht auf Schweizer «Gastarbeiter:innen», sondern rekrutierte lokale Frauen und Männer, welche das Land, die Mentalität und die Menschen kennen. Hilfe zur Selbsthilfe, wortwörtlich.

«Wir sind in unseren neun Ländern breit vernetzt und haben langjährige, vertrauensvolle Partnerorganisationen», sagt Nicole Stolz, Leiterin Entwicklungszusammenarbeit. «Das gibt uns Schlagkraft: Wir wissen, was die Bedürfnisse vor Ort sind. Und können rasch reagieren. Dies hilft uns vor allem auch bei der Nothilfe, welche in den nächsten zehn Jahren einen grösseren Stellenwert einnehmen wird», so Stolz.

Durch die zunehmenden Katastrophen dürften neben langfristig angelegten Projekten noch viel mehr kurzfristige Hilfe nötig sein, gerade bei akuten Dürren und Hungerkrisen wie im vergangenen Jahr im Sahel. «Mit unserem Netzwerk haben wir die nötige Unterstützung vor Ort, die es braucht, damit die Essenspakete oder Medikamente rasch und effizient zu den Menschen gelangt, welche die Hilfe am dringendsten benötigen.»

«Wir sind in unseren neun Ländern breit vernetzt und haben langjährige, vertrauensvolle Partnerorganisationen», sagt Nicole Stolz, Leiterin Entwicklungszusammenarbeit.

 

Wirksames Werkzeug

Mit der fundierten Erfahrung in der Agrarökologie hat SWISSAID zudem ein wirksames Werkzeug. Bereits vor 30 Jahren unterstützte SWISSAID in Nicaragua die Kleinbäuerinnenbewegung «La Via Campesina.» Landlose Bäuer:innen kämpften dort dafür, eigenes Land zu erhalten und lobbyierten für mehr Rechte. Früh begannen wir überdies, lokale Saatgut- und Getreidebanken zu betreiben und damit den Bauernfamilien lokales, bestens an die klimatischen Bedingungen angepasstes Saatgut zur Verfügung zu stellen.

Damit geraten die Kleinbäuerinnen nicht in die Abhängigkeit der Saatgut-Multis und können auf ihre heimischen, widerstandsfähigen Pflanzen setzen. «Im Bereich Saatgut haben wir mittlerweile ein Wissen, dass uns von anderen abhebt», betont Nicole Stolz. Dies zeigt sich in Projekten wie Crops4HD, ein weltweites Programm, das die Produktion und den Konsum von widerstandsfähigen und lokalen Pflanzenarten fördert. Dabei arbeitet SWISSAID eng mit der Forschungsanstalt FIBL und dem Bündnis für Ernährungssouveränität Afrikas zusammen.

Erster Meilenstein in der neuen Geschichte

Solche Netzwerke dürften künftig wichtiger werden. Davon sind die Länderverantwortlichen überzeugt. Egal ob in Kolumbien, in Nicaragua oder im Niger: Die Zusammenarbeit mit Hochschulen, Think Tanks und Forschungszentren funktioniert. Der uralte Ansatz der Agrarökologie erhält durch den technischen Fortschritt neue Mittel in die Hand. So können nützliche Daten oder Informationen rasch ausgetauscht werden. Und Bäuerinnen können sich auch in weiter entfernten Landesteilen von der erfolgreichen Wirkung des agrarökologischen Anbaus überzeugen.

Dabei macht die Arbeit nicht in den Projektgemeinden halt, sondern zieht weitere Kreise. Und zwar regional, national und international, an Tagungen oder am Globalen Food Summit der UNO. «SWISSAID schlüpft immer mehr in die Rolle der Wissens-Vermittlerin, der Fachexpertin. Denn Agrarökologie ist eine mögliche Antwort auf die vorstehenden aktuellen Krisen. Das wird immer mehr Menschen und Institutionen bewusst.»

So passiert in Tansania. Dort hat die Agrarökologie neu einen fixen Platz in der Agenda der Regierung. Die Unterstützung der Kleinbäuerinnen und der nachhaltigen Landwirtschaft ist also institutionell verankert. Andere Partnerländer von SWISSAID könnten diesem Beispiel folgen. Nicole Stolz umschreibt es so: «Der Kampf gegen Hunger ist kein Kampf gegen Windmühlen. Die Welt entwickelt sich. Gemeinsam können wir die Richtung beeinflussen!»