Mariana Córdoba, warum ist geschlechtsspezifische Gewalt ein heisses Thema in Kolumbien?
Allein im Jahr 2025 gab es in Kolumbien über 83’000 Fälle von Gewalt gegen Frauen und über 600 Femizide. Gewalt gegen Frauen zeigt sich nicht nur in Form von körperlicher oder sexueller Gewalt, sondern auch als wirtschaftliche Abhängigkeit und soziale Kontrolle. Deshalb ist es so wichtig, Frauen politisch und wirtschaftlich zu stärken, gegen die Normalisierung von Gewalt zu kämpfen und die aktuellen sozialen Muster zu verändern. Die Friedensstrategie von Kolumbien muss zwingend auch die geschlechtsspezifische Gewalt im Land beinhalten, damit Frauen ihre Rechte ausüben und innerhalb ihrer Gemeinschaften in Sicherheit leben können.
Was müssen die Frauen in den Gebieten, wo SWISSAID tätig ist, erleiden?
Frauen in ländlichen Gebieten sind mit vielen miteinander verbundenen Herausforderungen konfrontiert. Grundsätzlich prägt patriarchalisches und machistisches Gedankengut weiterhin den Alltag. Die von Männern dominierte Bergbauindustrie, Alkoholismus und der langwährende bewaffnete Konflikt perpetuieren ein Bild von Männlichkeit, das auf Kontrolle und Angst basiert. Das bedeutet: Männer sind diejenigen, die entscheiden, während Frauen schweigen und wirtschaftlich von Männern abhängig sind. Dies bringt Frauen in eine schwierige Lage. Sie haben keine Möglichkeiten Land zu besitzen oder bezahlter Arbeit nachgehen. Hinzu kommt: Institutionen im Land reagieren nicht angemessen auf ihre Lage – nicht nur weil sie manchmal ineffizient oder langsam sind, aber auch aufgrund der langen Distanzen, der schweren Erreichbarkeit der Orte und wegen informeller Kriege, die von lokalen bewaffneten Akteuren oder wirtschaftlichen Eliten geführt werden.
Eine komplexe Situation. Wie sind diese Herausforderungen miteinander verbunden?
Grundsätzlich sind Frauen aus marginalisierten Gruppen, wie indigene Frauen, Frauen afrikanischer Herkunft oder Frauen mit Behinderungen, in ländlichen Gebieten stärker von Diskriminierung betroffen. Diese Frauen sind nicht nur mit Einzelfällen von Gewalt konfrontiert, sondern mit einem ganzen System, in dem Kontrolle kulturell normalisiert ist und die Wirtschaft ihre Unabhängigkeit einschränkt. Eine junge Frau aus Sucre erzählte uns, dass sie für Ausgaben wie Lebensmittel oder Transport auf ihren Partner angewiesen ist. In solch einer Situation kann es unmöglich scheinen, eine von Missbrauch geprägte Beziehung zu verlassen.
Wie trägt SWISSAID dazu bei, geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern und Überlebende zu unterstützen?
Wir haben ein Projekt namens «Frauen, politische Partizipation und Frieden », in dem wir mit Schulungen und Workshops die politische Partizipation und wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen fördern. Aber wir bauen auch Brücken zwischen der Gesellschaft und den öffentlichen Institutionen.
Ein wirkungsvoller Pfeiler des Projekts ist die Stärkung von Gemeinschaftsnetzwerken, um geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern. Diese Gemeinschaften sind oft die ersten Ansprechpartner in Fällen von Gewalt. Sie bringen Frauen zusammen, begleiten Überlebende von Gewalt, bieten Raum, um sich auszutauschen und fordern die Behörden dazu auf zu handeln. Sie sind die lokalen Akteure, die die Politik mitgestalten. Derzeit arbeiten wir mit neun Netzwerken zusammen, in denen Männer und Frauen vertreten sind, was wichtig ist.
Warum ist es wichtig, mit Männern und Frauen zusammenzuarbeiten?
Wir sind überzeugt davon, dass wir als Teil der Lösung Männer miteinbeziehen müssen. Wir bringen Männer in Workshops, Gesprächskreisen und sogar Sport- oder Kochveranstaltungen zusammen. An diesen Veranstaltungen sollen sie ihre Erwartungen an Frauen reflektieren, über ihre Gefühle sprechen und besser verstehen, wie Gewalt oder bestimmte Gedankengüter nicht nur Frauen schaden, sondern auch ihnen selbst und ihren Gemeinschaften. Wir arbeiten auch mit Schulen und Jugendgruppen zusammen: Wir glauben, dass die Jugend die toxischen Muster durchbrechen kann. Mittlerweile haben die Jungs in unseren Programmen begonnen zu verstehen, dass Wachstum, Zuhören und Verantwortung zu teilen auch Formen der Stärke sind.
Was sind die grossen Herausforderungen in Ihrer Arbeit?
Ehrlich gesagt: Es ist nicht ganz ohne, die Männer einzubeziehen. Das Patriarchat und der Machismo sind tief in der Kultur verwurzelt. So wird Gewalt als normal angesehen, was nur schwer zu ändern ist. Deshalb ist die internationale Zusammenarbeit so wichtig. Nicht nur, um Prozesse schnell zu optimieren, sondern um solide Unterstützung zu bieten, zu bleiben und zuzuhören – vor allem im Blick auf die derzeit sinkenden internationalen Gelder für Lateinamerika und des Erstarkens konservativer Bewegungen, die Frauenrechte angreifen. Wir arbeiten bereits seit 20 Jahren an diesem Thema. Wir haben viel Erfahrung und arbeiten mit lokalen Teams. Das ist sehr wichtig, um sensibler auf kulturelle und politische Besonderheiten zu reagieren.
Gibt es eine Veränderung, das Sie besonders erfreut?
Ich denke, eines der wichtigsten Ergebnisse ist die Stärkung der Netzwerke zur Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt. Diese Netzwerke sind nicht über Nacht entstanden. Eine kleine Gruppe von Frauen begann gemeinsam gegen Gewalt zu kämpfen. In den letzten fünf Jahren haben sie sich von kleinen Gruppen zu organisierten Einrichtungen für Schulungen, Unterstützungsangebote und Aktionen entwickelt. Heute sind sie sehr wichtige politische Akteure, die die Politik mitgestalten.
Was hoffen Sie in der verbleibenden Laufzeit des Projekts noch zu erreichen?
Derzeit arbeiten wir mit neun Netzwerken mit über 300 Mitgliedern und mehr als 68 gemeinschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen zusammen. Wir hoffen sehr, diese Netzwerke auszuweiten und weitere lokale Akteure einzubeziehen, um eine wirklich nachhaltige Veränderung zu bewirken.
