Eigentlich müsste niemand auf der Welt Hunger leiden. Global werden 6000 Kilokalorien pro Kopf und Tag produziert, fast dreimal so viel, wie ein Mensch im Durchschnitt benötigt. Dennoch haben 735 Millionen Menschen auf der Welt nicht genug zu essen. 2,8 Milliarden Menschen können sich keine gesunde, vitamin- und mineralstoffreiche Ernährung leisten. Seit 2016 werden im Kampf gegen Hunger kaum noch Fortschritte erzielt. 2024 sind die Zahlen stagniert. Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDG) rücken in immer weitere Ferne. Wie kann das sein?

«Unser Ernährungssystem ist aufgebaut wie eine Sanduhr: Es gibt sehr viele Produzierende und sehr viele Konsumierende, aber nur wenige Akteure in der Mitte, die Entscheidungen treffen, und die sind in erster Linie nicht daran interessiert, Hunger zu beenden», erklärt Johanna Jacobi, Professorin für Agrarökologische Transitionen an der ETH Zürich.

Jacobi sieht Agrarökologie als eine «globale Gegenbewegung gegen das Sanduhrsyndrom». Sie sagt: «Agrarökologie trägt zur Unabhängigkeit von Menschen und ihrer Ernährungssouveränität bei, weil sie Wissen aufbaut, wie man Saatgut selektiert und aufbewahrt, wie man Kompost macht, mit welchen Tricks man Unkraut oder Schädlinge zurückhält.»

Dadurch sind Landwirt:innen nicht mehr auf teures Saatgut, Pestizide oder Düngemittel von Agrarkonzernen angewiesen, bauen ihre lokalen Ernährungssysteme und Netzwerke auf – und sind dadurch besser gegen Hunger gewappnet.

Zweiter Ernährungsbericht

SWISSAID setzt in ihren Ländern seit Jahrzehnten auf den nachhaltigen Ansatz. Der im Oktober 2024 publizierte Globale Ernährungsbericht bestärkt sie einmal mehr auch wissenschaftlich auf diesem Weg. Die Allianz Sufosec (Fastenaktion, Vivamos Mejor, Vétérinaires Sans Frontières Suisse, Aqua Alimenta, Skat Foundation und SWISSAID) hat die Projektgebiete untersucht; engmaschig begleitet von Johanna Jacobi, von der ETH Zürich, der Universität Bern sowie ähnlichen Institutionen im Globalen Süden.

Konkret wurden jährlich von 2021 bis 2023 über 10’000 kleinbäuerliche Haushalte in 19 Ländern zu ihrer Ernährungssituation und dem Einsatz agrarökologischer Praktiken befragt. Dafür nutzten wir einerseits die Food Insecurity Experience Scale (FIES) der Vereinten Nationen. Andererseits massen wir die Anwendung von 18 Anbaupraktiken und fassten sie in vier Kategorien zusammen: biologische Vielfalt, Bodengesundheit, Reduzierung der Inputs und Synergien mit Viehzucht. Die Interviews fanden vor Ort statt, wenn möglich mit der für den Haushalt verantwortlichen Frau.

Die fundierten Aussagen zeigen beeindruckende Erfolge: In den untersuchten Regionen konnte die Ernährungsunsicherheit um bis zu 60 Prozent reduziert werden. Haushalte, die mindestens drei agrarökologische Anbaumethoden aus drei verschiedenen Kategorien kombinieren, haben im Durchschnitt ein um 34 Prozent geringeres Risiko, an Hunger zu leiden.

 

Gesamte Klaviatur

Neben Erfolgen zeigt der Bericht aber auch Grenzen auf. So stieg trotz intensiver Bemühungen in einem agrarökologischen Projekt in Guéra, Tschad, die Ernährungsunsicherheit von 74 Prozent auf 92 Prozent. Dazu geführt haben verschiedene Faktoren: eine politisch unsichere Situation, grosse Flüchtlingsströme aus der Sahelzone, stark steigende Nahrungsmittelpreise und heftige Überschwemmungen, die ganze Felder überfluteten.

«Die Agrarökologie gedeiht zwar auch unter extremen klimatischen Bedingungen. Doch hängt ihr Erfolg von politischer und gesellschaftlicher Stabilität, gesicherten Landbesitzverhältnissen und Zugang zu Märkten ab», fasst Francesco Ajena, Agrarökologie-Experte bei SWISSAID, zusammen.

In solchen Regionen müssen langfristige agrarökologische Ansätze mit kurzfristiger humanitärer Hilfe kombiniert werden. Dem kommt SWISSAID mit dem Triple-Nexus-Ansatz entgegen, der in mehreren Projekten angewendet wird. Dabei wird Nothilfe mit langfristiger Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung kombiniert und je nach Situation kurzfristig angepasst.

Widerstandsfähige Sorten: wichtiges Maniok und höhere Margen

Weitere Erkenntnisse brachte eine Studie in Tansania. Dort untersuchte SWISSAID zusammen mit Wissenschaftler:innen die Auswirkungen agrarökologischer Praktiken auf den Anbau von Maniok und Mais. Das Projekt basierte auf der Forschung von Angelika Hilbeck, Expertin für Agrarökologie und Umweltbiosicherheit an der ETH Zürich, und wurde in Kooperation mit der Sokoine University of Agriculture sowie lokalen Organisationen durchgeführt. Ein innovativer Aspekt war der Einsatz von speziell entwickelten Apps zur Unterstützung der Feldforschung. Mit der «Macho Sauti»-App konnten Bäuer:innen schädlingsbefallene Pflanzen fotografieren und Lösungen von Expert:innen oder anderen Landwirt:innen erhalten.

Die Studie zeigte, dass lokal angepasste Sorten für hohe Erträge entscheidend sind. Die Manioksorte Kiroba erwies sich als besonders ertragreich und widerstandsfähig gegen Schädlinge, ohne teure und arbeitsintensive Bekämpfungsmethoden. Maniok ist eine zentrale Nahrungsquelle in Tansania, da er auch unter schwierigen Bedingungen gedeiht und sowohl als Mehl, Brei wie auch Blattgemüse genutzt wird.

Der Globale Ernährungsbericht und die Studie aus Tansania von SWISSAID reihen sich ein in eine wachsende Zahl von wissenschaftlichen Untersuchungen, die die positive Wirkung der Agrarökologie auf die Biodiversität, die Ernteerträge, die Ernährungssicherheit und die Einkommen der Bäuer:innen bestätigen.

Der SWISSAID-Experte Francesco Ajena sieht dafür verschiedene Gründe: «Agrarökologische Methoden sind widerstandsfähiger. Sie sichern die Bodengesundheit, stärken natürliche Ökosysteme und verbessern die Artenvielfalt. Dadurch schneiden sie besser ab als die konventionelle Landwirtschaft.» Auch geringere Ausgaben für Düngemittel und Saatgut lassen die Gewinne steigern. Und mit den direkten Vertriebskanälen verschaffen sich die Bäuer:innen mehr Verhandlungsmacht; und damit grössere Margen.

Diese handfesten Vorteile hinterlassen auch in der Politik Spuren. So hat Kolumbien im vergangenen November seine erste nationale Politik der Agrarökologie verabschiedet. Dies ist ein wichtiges Bekenntnis für eine Transformation der Agrarsysteme. Kolumbien ist nach Tansania das zweite Land, in dem SWISSAID tätig ist, das sich zum nachhaltigen Ansatz bekennt. SWISSAID hat beide Prozesse begleitet und unterstützt und wird gemeinsam mit Partner:innen vor Ort darauf achten, dass die neue Strategie von den Regierungen auch prioritär umgesetzt wird.

Ganze Regionen verändern

Agrarökologie wird für SWISSAID die zentrale Strategie bleiben, wenn es um die Sicherung der Ernährung, Stärkung der Klimaresistenz und Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung geht. Dabei werden wir künftig noch mehr auf eine ganzheitliche Entwicklung achten. Francesco Ajena: «Es geht darum, Kleinbauern, Märkte, lokale Institutionen, Wirtschaftsakteure und politische Entscheidungsträgerinnen so miteinander zu verknüpfen, dass die agrarökologische Umstellung ganze Regionen zugutekommt!»

Guinea-Bissau

Penda Queita aus Madina Ioba, Guinea-Bissau, hat lange Zeit vor allem auf ein Produkt gesetzt: Cashewkerne. Damit war die Kleinbäuerin nicht allein: Cashew ist eines der wichtigsten Exportmittel des kleinen Landes; oft angepflanzt in stark zehrenden Monokulturen, die die Böden auslaugen.

Mit der Unterstützung von SWISSAID haben sich Penda Queita und ihr Dorf von den Nüssen emanzipiert. Mit neuen, agrarökologischen Techniken hat sich der Boden erholt. Die Aussaat ist vielfältiger und biodiverser, die Ernte auch. Aus den neuen Produkten stellen die Frauen Säfte und Kompott her, die sie auf dem Markt verkaufen. Auch den nahe gelegenen Wald wissen sie nachhaltig zu pflegen – und zu nutzen. Dadurch hat sich die Lebenssituation von Penda Queita verbessert.

«Heute können wir drei Mahlzeiten am Tag zu uns nehmen, während früher häufig Hunger herrschte!», freut sich Penda Queita.

Indien

Mumtaz ist 45 Jahre alt und Analphabetin. Mit ihrem Ehemann Nawab Sab besitzt sie fünf Hektar Ackerland im Bundesstaat Karnataka, in Indien. Lange bewirtschafteten sie es mehr schlecht als recht nach konventionellen Methoden. Das Ehepaar kämpfte mit der Verarmung des Bodens, schlechten Erträgen und immer wieder Sorgen, wie sie ihre Familie ernähren können.

2021 stellten sie mit der Unterstützung von SWISSAID auf biologischen Landbau um. Ein Wendepunkt: Der Boden ist seither gesünder und dadurch fruchtbarer. Mumtaz pflanzt vielfältiger an, was zu einer erheblichen Steigerung der Ernteerträge geführt hat. Das Kleinbauern-Ehepaar kann ihre Erzeugnisse jetzt zu besseren Preisen auf den lokalen Märkten verkaufen. Die Familie hat einen höheren Lebensstandard erreicht. Sie sind mit den Ergebnissen sehr zufrieden und wollen ihre ökologische Landwirtschaft in den kommenden Jahren ausbauen.

Agrarökologie und Gleichstellung

Drei Fragen an Daniele Polini, Themenverantwortlicher Gender und WASH bei SWISSAID.

Frauen spielen in der Agrarökologie eine zentrale Rolle. Warum?
Weil sie massgeblich zur Ernährungssicherheit und nachhaltigen Landwirtschaft beitragen. Sie sind oft für den Anbau, die Auswahl von Saatgut und die Weitergabe von traditionellem Wissen verantwortlich. Damit ernähren sie ihre Kinder und Familien. Zudem sind Frauen besonders von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen, weshalb ihre aktive Beteiligung an nachhaltigen Anbaumethoden entscheidend für resiliente Ernährungssysteme ist.

SWISSAID denkt Frauen in jedem einzelnen Projekt mit und fördert sie entsprechend. Welche Meilensteine wurden 2024 erreicht?
Da gibt es einige … Beispielsweise haben wir 18’551 Kleinbäuerinnen dabei unterstützt, ihr eigenes Einkommen zu generieren. In Indien haben wir dafür Lebensmittelmärkte lanciert. Dort können Kleinbäuerinnen heute ihre Einkünfte verbessern, indem sie ihr nachhaltig produziertes Gemüse zu einem fairen Preis verkaufen – und so auch die lokalen Nahrungsmittelsysteme in der Region fördern. Und in unseren ABC-Schulungen haben fast 17’000 Frauen lesen und schreiben gelernt. Das ist der erste Schritt in die Unabhängigkeit.

Wo lagen die Schwierigkeiten im vergangenen Jahr?
Gendergerechtigkeit braucht einen langen Atem: Die Gesellschaftsstrukturen müssen grundlegend verändert werden. Die Finanzierung solcher Ansätze ist indes oft schwierig. Nichtsdestotrotz sind wir überzeugt, dass wir gemeinsam mit unseren lokalen Gender-Expertinnen einen wichtigen Beitrag hin zu einer gerechten Gesellschaft leisten!

Saatgut für alle!

Saatgut wird zunehmend von Unternehmen privatisiert. Dank Ihrer Hilfe bleibt die Vielfalt an Pflanzen in den Händen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern. Das sichert die Ernährungssouveränität und die Biodiversität.