In einem Artikel analysieren Sie die Agrarökologie aus wirtschaftlicher Sicht und stellen sie als disruptives Modell dar. Was ist problematisch an der konventionellen Landwirtschaft?
Die industrielle Landwirtschaft ist heute ein quasi monopolisierter Sektor. Vier Unternehmen kontrollieren rund 60 Prozent des weltweiten Marktes für patentiertes Saatgut und Agrochemikalien und erzielen damit Milliardenumsätze. Der angehäufte Reichtum kommt leider nicht den Bäuerinnen und Bauern zugute, obwohl sie es sind, die das Land bewirtschaften und die Wertschöpfung erzielen. Das System der konventionellen Landwirtschaft schafft eine winzige Zahl von Gewinnern und eine riesige Zahl von Verlierern: die Bäuerinnen und Bauern sowie die Konsumentinnen und Konsumenten.
Ist dieses System tragfähig?
Nein, denn es ist nicht rentabel, wenn man die versteckten Kosten berücksichtigt. Die konventionelle Landwirtschaft basiert auf der Abhängigkeit der Bauern von kommerziellem Saatgut, Düngemitteln und Pestiziden sowie von öffentlichen Subventionen. Das läuft oft darauf hinaus, dass ein komplexes Ökosystem wie ein chronisch kranker Patient behandelt wird. Anstatt auf eine gesunde Lebensweise zu setzen, werden Antibiotika und synthetische Vitamine verschrieben. Das ist nicht nur für einen gesunden Körper nutzlos, sondern zerstört langfristig auch die natürlichen Abwehrkräfte des Organismus und führt zu Resistenzen gegen Behandlungen. Die Landwirte zahlen die Kosten für ihre zerstörten Böden und die Verbraucherinnen und Verbraucher die Kosten für die Auswirkungen der Pestizide auf ihre Gesundheit.

Könnte die Agrarökologie als Gegenmodell dienen?
Auf jeden Fall. Zahlreiche Studien belegen die sozioökonomischen und ökologischen Vorteile der Agrarökologie. Erstens, weil sie für eine Vielzahl von Produzenten steht, was zu einem gesunden natürlichen Wettbewerb führt und Innovationen fördert. Die Agrarökologie kann daher ein Faktor für wirtschaftliches Wachstum sein. Ausserdem sind ihre Systeme widerstandsfähiger gegenüber dem Klimawandel. Und schliesslich schafft die Agrarökologie einen Wert, der innerhalb einer Gemeinschaft bleibt. Die Wege sind kürzer, sodass alle gleichermassen von der Produktion profitieren können. Die Agrarökologie kann die Welt ernähren, das ist eine Tatsache, jedoch leidet sie unter dem Image einer «Gemüsegarten-Landwirtschaft». Dieser Diskurs muss sich ändern.
Was kann SWISSAID dazu beitragen, diesen Diskurs zu ändern und die Agrarökologie sichtbarer zu machen?
Die Arbeit von SWISSAID ist, wie die anderer NGOs auch, von entscheidender Bedeutung. Die Erfolge der Agrarökologie müssen dokumentiert werden: Es muss anhand von Zahlen belegt werden, dass sie das Nettoeinkommen der Bäuerinnen und Bauern erhöht, indem sie sie von teuren Betriebsmitteln unabhängig macht, und dass sie tragfähige Geschäftsmodelle fördert, die ohne Subventionen auskommen*. Das aktuelle System muss weiterhin hinterfragt und seine Mängel aufgezeigt werden. Durch diese Sensibilisierungsarbeit können wir nach und nach etwas bewegen. In den vergangenen zehn Jahren hat sich im Bereich der Agrarökologie viel getan, und darüber muss berichtet werden. Das ist die Kernaufgabe von NGOs wie SWISSAID.
Können Sie ein konkretes Beispiel für ein erfolgreiches agrarökologisches Projekt nennen?
Im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh findet das weltweit grösste Projekt zur Umstellung auf agrarökologische Landwirtschaft statt, an dem 630’000 Bäuerinnen und Bauern beteiligt sind. Die Auswirkungen dieser Umstellung sind beeindruckend: Bäuerinnen und Bauern, die agrarökologische Methoden wie Mulchen und den zyklischen Anbau lokaler Sorten anwenden, erzielen eine doppelt so hohe Saatgutvielfalt wie konventionelle Betriebe und haben zuvor aufgegebene Flächen wieder in Kultur genommen. Die Erträge der wichtigsten Kulturpflanzen – Reis, Mais, Hirse – sind um durchschnittlich 11 Prozent gestiegen. Das Nettoeinkommen der Bäuerinnen und Bauern stieg um fast 50 Prozent, insbesondere dank einer deutlichen Senkung der Kosten für Düngemittel und Pestizide. In Dörfern mit intensiver Landwirtschaft und Chemikalieneinsatz sind die Gesundheitskosten um 26 Prozent höher als in Dörfern mit agrarökologischer Landwirtschaft. Dieses Beispiel zeigt nicht nur, dass die Agrarökologie ein Mittel zur Verbesserung der Ernährungssicherheit ist, sondern auch, dass sie ein echter Wirtschaftsmotor sein kann und zu einer besseren Verteilung des Reichtums und damit zu weniger Ungleichheiten führt.
*Die Allianz SUFOSEC, der auch SWISSAID angehört, veröffentlicht regelmässig Zahlen zu den Ergebnissen der Agrarökologie. Den aktuellen Bericht finden Sie hier: