Juli 2020 – Lokale, ökologische Produkte und direkte Lieferketten erfahren eine nie dagewesene Wertschätzung. Von einem «regelrechten Ansturm» berichten Béla Bartha, Geschäftsführer ProSpecieRara, und Maurício García Alvarez, Koordinator der Kampagne «Semillas de Identidad» SWISSAID Kolumbien, den rund 150 Teilnehmenden des Webinars. Beide Organisationen haben sich der Förderung, Erhaltung und Schaffung von bäuerlichem Saatgut verschrieben – und kämpfen damit gegen einen jahrzehntelangen Trend an.

In der Schweiz sind beispielsweise in den letzten 120 Jahren ein Drittel von 3000 Obstsorten unwiderruflich verschwunden. Von der Politik gefördert, wechselten Bäuerinnen und Bauern von alten auf neue, kurzfristig ertragsreichere Sorten. In Kolumbien macht die gesetzliche Grundlage und ein staatliches Zertifizierungssystem Bauernfamilien gar zu Straftätern. «90% der angebauten Kartoffeln sind nicht zertifiziert – und damit offiziell illegal», erzählt Maurício García Alvarez. Da stehen nicht nur SWISSAID-Geschäftsleiter Markus Allemann die Haare zu Berge: «Wir müssen handeln.»

Das Webinar zum Nachschauen


Referenten:

Béla Bartha, Geschäftsführer ProSpecieRara

Maurício García Alvarez, Koordinator der Kampagne «Semillas de Identidad» SWISSAID Kolumbien

Moderation:

Andrea Kučera, Moderation, Redaktorin Bundespolitik, NZZ am Sonntag

Antworten auf Fragen, die im Webinar nicht beantwortet wurden

Eine wichtige Eigenschaft des bäuerlichen Saatgutes und lokaler Sorten ist, dass sie offen abblühend sind und damit eine stetige Anpassung und Ko-Evolution an Natur und Gesellschaft möglich ist. Betreibt ProSpecieRara Züchtung/Selektion/Anpassung gestützt auf die Eigenschaft und ist bedacht, diese wichtige Eigenschaft zu erhalten? Und wie wichtig ist bei Ihrer Arbeit die Erhaltung der Sorten in ihrem Ursprungsgebiet? Wird das Saatgut aus diesem Gebiet entfernt? Gibt es etwas, das in dem Zusammenhang speziell berücksichtigt wird oder werden sollte?  

Béla Bartha: ProSpecieRara betreibt gemeinsam mit unseren Partnern mehrere Züchtungsprojekte in denen wir die ursprünglichen Eigenschaften der traditionellen Sorten erhalten wollen, aber gleichzeitig die Vitalität der Sorten verbessern und Eigenschaften, die den Anbau und die Vermarktung der Sorten für die Bauern erleichtern, fördern. Dabei konzentrieren wir uns vor allem auf Arten oder Typen, die in der heutigen Züchtung völlig vernachlässigt werden. So erhoffen wir uns, die Vielfalt im heutigen Angebot für den Konsumenten wieder zu erhöhen.

Die Erhaltung der Sorten in ihrem Ursprungsgebiet hat bei uns eher an Bedeutung verloren, da es unserer Meinung nach mit dem rasant voranschreitenden Klimawandel weniger Sinn macht, die Sorten an einen bestimmten Standort zu «fesseln». Wir müssen neue Nischen – Standorte – Anbausysteme für unsere Sorten finden. Nur so werden sie in Zukunft überleben.

Wichtig ist, dass wir die standortspezifischen Bedürfnisse der Pflanzen gut kennen und die damit zusammenhängenden besonderen Eigenschaften der Pflanzen. Damit wir die Pflanzen an andere – aber ähnliche Standorte bringen können. Wie ich in meinem Vortrag erwähnte, geht es nicht nur um die Eigenschaften der Pflanzen sondern auch um angepasste Anbausysteme in die wir die Pflanzen einbringen wollen.

Wie stark wird die Verbreitung von bäuerlichen Sorten von der Nachfrage nach Produkten, die aus diesen Sorten entstehen, beeinflusst? 

Béla Bartha: Es ist schwierig von der Nachfrage auszugehen, da das Sortenwissen bei den Menschen nicht mehr gegeben ist. Daher geht es zuerst nicht darum die Nachfrage nach einer Sorte zu erhöhen, sondern zuerst darum die Nachfrage nach der Thematik –  also nach mehr Diversität auf dem Markt – zu steigern. Danach verknüpfen wir die Sortenvielfalt mit dieser Nachfrage. ProSpecieRara hilft das Label, da dieses für mehr Vielfalt und für traditionelle Sorten steht – das sind beides Themen die positiv besetzt sind.

Mauricio García Alvarez : Die Nachfrage ist zentral. Sie ist Teil dessen, was unserer Meinung nach gefördert werden sollte, nicht nur auf lokaler Ebene, sondern auch in den Städten in Absprache mit Restaurants, Köchen und Märkten.

Welche Arbeit wurde in Kolumbien gemacht bezüglich des Schutzes und der Erhaltung von Mais? 

Mauricio García Alvarez : Vor mehreren Jahren (seit dem Jahr 2000) begannen wir auf nationaler Ebene Mais-Sorten zu identifizieren: verloren gegangene, seltene und reichlich vorhandene Sorten. Aus dieser Arbeit sind Kampagnen entstanden, auf in den einzelnen Saatgut-Netzwerken zur Erhaltung der Sorten. Wir haben viel Sensibilisierungsarbeit in den ländlichen Gemeinschaften gemacht zur Gefahr der Einführung und Kontaminierung durch gentechnisch veränderte Sorten. Viele Gemeinschaften haben sich als gentechfreie Territorien erklärt und testen einheimische und Maissorten auf ihre Kontaminierung.

Sehen Sie ein Potential in partizipativer Pflanzenzüchtung für die Weiterentwicklung von Nischensorten? 

Béla Bartha: Ja ProSpecieRara sieht darin ein sehr grosses Potential. Diese Züchtung arbeitet viel mit Populationen und Adaptationsprozessen und bringt dabei viele Menschen aus der ganzen Produktionskette zusammen und lässt diese gemeinsam an der Entwicklung teilhaben – das geht viel leichter, wenn man nicht über die ganze Welt verstreut, sondern regional verankert ist (im Gegensatz zu einer Züchtung für den globalen Markt) – Offen abblühende Sorten sind ideal für diese Art der Züchtung.

Ist Basel der einzige Standort von ProSpecieRara an dem Selektion von Saatgut gemacht wird und es eine Samenbibliothek gibt? 

Béla Bartha: Wir haben die Samenbibliothek nur in Basel in den wunderschönen Merian Gärten (ein Besuch lohnt sich!). Eine Zweitabsicherung der Samenbibliothek ist noch in der CH-Genbank in Changins. Die Vermehrung und Züchtung machen wir aber an vielen weiteren Standorten in der Schweiz verteilt. So haben wir beispielsweise kürzlich unsere neue Samen-Gärtnerei auf Schloss Wildegg eröffnet. Diese ist aber nur bedingt öffentlich.

Wie bringt sich ProSepcieRara ein, wenn es um die Strategie Pflanzenzüchtung 2050 der Schweiz geht? Da wird mitbeeinflusst welches Saatgut in Zukunft in der Schweiz in der Landwirtschaft verwendet wird, oder?  

Béla Bartha: ProSpecieRara arbeitet hier mit verschiedenen Organisationen zusammen (Agrarallianz, Bio-Szene). Da unsere direkten Anliegen schon mit der Verordnung 147a des LwG, das 2010 in Kraft gesetzt wurde, recht gut abgedeckt wurden, sind wir eher zurückhaltend. Bei der Pflanzenzüchtung 2050 unterstützen wir v.a. die Bio-Szene bei ihren Anliegen. Wir möchten absolut verhindern, dass die verschiedenen Szenen bei der Strategie 2050 gegeneinander ausgespielt werden.

Ist die wirtschaftliche Nachhaltigkeit für Bauernfamilien, die auf die agroökologische Produktion setzen in Kolumbien möglich? Oder anders: wird das lokale Saatgut im Hausgarten angepflanzt, zusätzlich zu anderen Hauptkulturen, die vor allem für den kommerziellen Zweck angebaut werden, oder gibt es Betriebe auf denen die Produktion von bäuerlichem Saatgut zum Haupterwerb gehört? 

Mauricio García Alvarez: Die Frage der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit muss aus zwei Perspektiven betrachtet werden: Selbstversorgung und Einkommenserzielung. Laut der letzten nationalen Landwirtschaftszählung haben 56% der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten Parzellen für den Eigenverbrauch. Darüber hinaus sind 70% des in der Landwirtschaft verwendeten Saatguts nicht zertifiziert. Diese Daten lassen darauf schliessen, dass ein grosser Teil der Familien- und Gemeinschaftslandwirtschaft – ACFC in Kolumbien – von einheimischem und lokalem Saatgut abhängt. Nach Ansicht der Experten ist die ACFA jeweils durch eine Hauptkultur, abhängig von der Region, stark am Markt vertreten (z.B. Kaffee, Zucker, Gemüse, Kartoffeln, Maniok, Yamswurzeln, Zwiebeln usw.). Die meisten dieser Kulturen, mit Ausnahme von Kaffee, stützen sich auf die Verwendung von einheimischem und lokalem Saatgut. In jedem Fall ist die Frage der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit weiterhin wichtig zu analysieren, wofür der Ansatz der Multifunktionalität in der Familien- und Gemeinschaftslandwirtschaft entwickelt wird.

Die Nachfrage nach ProSpecieRara von privaten «Gärtnern» zeigt eigentlich die Sehnsucht weg von Konformität seitens der Konsumenten. Aber dem steht die Lebensmittelindustrie entgegen. In Indien wird ein System von seed and food festivals zur Verbreitung indigener Sorten genutzt. Könnte dies ein Ansatz zur Verbreitung sein?  

Béla Bartha: Es gibt viele Plattformen wie beispielsweise die Samentauschbörsen, die zur Verbreitung der Idee von ProSpecieRara beitragen. In der Schweiz haben wir eine rechtliche Grundlage geschaffen, dass traditionelle Sorten leicht in Umlauf gebracht werden können. Daher sehen wir im Moment bei den Nahrungspflanzen weniger das Problem, dass die Lebensmittelindustrie unsere Arbeit bedrohen könnte. Aber wir sehen unsere Arbeit vor allem von der Seite der Pflanzengesundheitsverordnung her bedroht. Besonders für die Zierpflanzenvielfalt könnte diese Verordnung verheerende Folgen haben. Wenn hier die Restriktionen zu gross würden, dann müsste man sich unbedingt wieder kreative Lösung des Inverkehrbringens von Zierpflanzen überlegen und da könnten Pflanzenfestivals sicher helfen.

Gibt es in Kolumbien in einigen Regionen Untersuchungen zur Ernährungssicherheit? 

Mauricio García Alvarez: In Kolumbien wurden in mehreren Regionen Untersuchungen zur Ernährungssicherheit durchgeführt. Jede Gemeinde muss ihre Ernährungssituation kennen, die sich in den kommunalen Entwicklungsplänen widerspiegelt. Darüber hinaus gibt es Ausschüsse für Ernährungssicherheit, die sich mit dem Ernährungsproblem befassen. Zum Beispiel gibt es im Departement Santander eine sehr interessante Arbeit der Organisation OBUSINGA.

Gibt es in Kolumbien einen Dialog mit lokalen Akteuren, Stadtregierungen, um die Verwendung von einheimischem Saatgut mit agroökologischen Prinzipien zu fördern? 

Mauricio García Alvarez: Mit der Förderung von dörflichen Saatgutbanken durch die Saatgut-Netzwerke haben wir den Dialog mit den Kommunalverwaltungen in letzter Zeit verstärkt. Ermöglicht wird dies durch das neue Vertrauen in eine rechtliche Absicherung, das die Resolution 464 für Familienlandwirtschaft von 2017 bringt. Ein Beispiel dafür ist das Departement Antioquia, wo vor kurzem der Entwicklungsplan des Departements und die Unterstützung von dörflichen Saatgutbanken genehmigt wurde.

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